Wenn ich nun versuchen würde zu erklären, wie grausam der Mensch in meinen Augen ist, müsste ich Wörter verwenden wie „massakrieren“, „totschlagen“, oder „vergewaltigen“, um die Person, die das hier gerade liest eventuell an ihrem sensiblen Punkt zu erwischen.
Ich weiß, dass ich oft negativ denke. Vieles in mir, macht mich andauernd darauf aufmerksam, wie verworren diese Welt ist. Wie ungenau ich in dieses System passen will und wie genau ich tatsächlich reinpasse. Wie wütend ich werde, wenn ich mir darüber Gedanken mache.
Eigentlich möchte ich ja weit raus, anderes sehen und entdecken. Möchte mehr erleben und feiern, wie so viele es in meinem Alter tun. Doch wenn ich genauer darüber nachdenke fällt mir ein, dass mich all meine Gedanken stetig begleiten.
Nicht, dass ich es nicht versucht hätte, etwas daran zu ändern. Laut habe ich sie angeschrien, meine Gedanken, sie sollen abhauen! Verschwinden!“ Ich habe jetzt keinen Kopf für euch“, habe ich energisch behauptet. Doch auch nach meinem Wutausbruch wollten sie nicht verschwinden. Im Gegenteil, sie wurden lauter, bis ich mich selbst nicht mehr protestieren hören könnte. Sie müssten schon längst einen Muskelkater haben, weil sie in meinem Kopf Marathonläufe starten, solange, bis meine Schädeldecke nachgeben, und einfach zersprengen wird. Da würden dann alle meine Gedanken auf dem Boden liegen, zucken und sich wie nach Luft ringende Fische verhalten, die nach einem tragischen Aquarium-Unfall aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurden. Dieses Szenario ist zu grausam, um es detaillierter auszudrücken, Sie wissen, was ich meine?
Allein das Wissen darüber, was ich eigentlich alles nicht weiß, macht mich wütend und nachdenklich. Ich will eigentlich gar nicht wissen, ob ich tatsächlich dauernd abgehört werde. Ich möchte nicht wissen, ob mich jemand durch meine Webcam beobachten kann. Ich will nicht wissen, ob in Flugzeugabgasen in Wirklichkeit Krankheitserreger stecken, die eine Pandemie auslösen könnten. Ich will nicht wissen, ob meine Daten über virtuelle Plattformen weitergegeben und sonst wie verwendet werden. Bis vor ein paar Tagen fühlte ich mich noch sicher, weil ich bei auf einer bekannten Plattform meine Handynummer nicht angegeben hatte und heute weiß ich, dass es völlig gleichgültig ist, weil diese Seite absurderweise genau weiß, wo ich wohne, was ich lese, was mir gefällt und worüber ich lachen kann. Es macht mir Angst. „Sie sind nun im Begriff zu sterben, ins Gras zu beißen, abzukratzen und den Löffel abzugeben. Wir haben für sie eine persönliche Collage erstellt, in der sie all ihre besten Momente auf einem Blick wiederfinden/betrachten können.“
Ich will nicht wissen, dass das angebliche Bio-Produkt, welches ich bis vor kurzem noch mit gutem Gewissen gekauft habe, in Wirklichkeit doch der herkömmliche Industriedreck ist, den ich sonst so verabscheue. Es macht mir Angst, dass ich nicht genau weiß, warum das so ist. Und trotzdem mache ich mir Gedanken und male mir ständig Szenarien aus, wie sie uns wohl alle verarschen und hintergehen. Ich lese keine Zeitung mehr, dieser Boulevard-Dreck ist sowieso nur aufgeputschtes Bla-Bla dass uns allen nur noch mehr Angst machen soll. Die Welt ist grausam, und das wusste ich schon bevor ich das Titelblatt gelesen habe.
Wir alle sind desensibilisiert gegenüber unserem Umfeld und hypersensibilisiert was unser Ego betrifft. Und das kommt nicht davon, dass ich wahrscheinlich Gluten, Lactose oder Fructose intolerant bin, oder weil ich die Pestizide auf den Tomaten nicht vertrage, nein, das kommt davon, weil es mir eingeredet wird. Weil mir eingeredet wird, dass ich eigentlich total sensibel bin, was meinen Körper betrifft, dass ich nicht stressresistent sei, dass mir jede Kleinigkeit zu viel wird, bis ich irgendwann beim Psychologen sitze und mir Tabletten verschreiben lasse, die mich wieder glücklich machen sollen. Oder jeden Tag nur noch Kopfschmerztabletten einschmeiße, weil ich mit dem Lärm nicht mehr klar komme. Ich bin so gestresst, ist habe keine Lust mehr zu kochen. Aber auch dafür gibt es eine Lösung, in Supplementen-Form. Einer hat Burnout, alle haben Burnout. Ich habe schon lange aufgehört mich selbst aus solchen Gründen zu bedauern.
Wie haben die Menschen das denn früher geschafft? Von morgens bis abends geackert, gearbeitet, Kinder großgezogen. Naja gut, die Pädagogik von früher war vielleicht keine Glanzleistung, aber dennoch frage ich mich, ob es früher schon so etwas wie Überforderung nach einem 38 Stunden Job gab.
Heute ist es anders, wenn die wollen, dass ich es habe, dann habe ich es auch. Alles kann einem eingeredet werden. Wir werden hypersensibilisiert. „Achten sie auf ihre Aura, achten Sie auf Ihre Ernährung und Sport, achten Sie auf Ihr Umfeld und auf Sauberkeit. Achten Sie darauf, was Sie anziehen, denn Kleidung kann durchaus Ihren Charakter wiederspiegeln. Achten Sie auf Ihre Gestik und wie Sie sich verhalten. Machen Sie Persönlichkeitstests, die Ihnen zeigen, ob sie romantisch, traurig, fröhlich, ausgelassen, gestresst, gut im Bett oder Alkoholiker sind. Haben Sie das Borderline-Syndrom? Tragen Sie gern schwarz? Wenn ja, warum? Fangen Sie an zu hinterfragen warum Sie alles so tun, wie sie es tun, damit wir ihnen stetig erzählen können, dass sie nicht ausreichen und warum Sie es nicht so machen, wie es hier in dieser Zeitschrift steht. Eine Studie nach der anderen hat bewiesen, dass das das Richtige ist für Sie!“
Sie wollen uns weiß machen, dass wir Augen haben, um zu sehen was wir noch alles konsumieren und haben müssen, um glücklich zu sein. Zwei Ohren, um zu hören, was für Regeln sie uns aufstellen und was für uns das „Richtige“ ist. Reize, um noch mehr Reizüberflutung zu erfahren und noch mehr zu kaufen! Ein Gehirn, das mehr und mehr braucht, weil wir unglücklich sind. Was mit Informationen vollgepumpt wird und nie genug bekommt. Fäuste, um die kaputtzuhauen, die uns das alles schlecht reden wollen und anders sind wie wir. Und wir sollen Beine haben, die wir zum Laufen einsetzen sollen. Wir konsumieren und konsumieren und werden im Grunde nur abgelenkt.
Aber tatsächlich haben wir Augen, um zu sehen was hier alles schief läuft, um hinter die Fassaden zu blicken. Wir haben Ohren, um zu hören, wer uns die Wahrheit und wer die Lügen erzählt. Wir haben Reize, um auf uns selbst zu hören und zu wissen, was wirklich gut für uns ist. Wir haben ein Gehirn, um nachzudenken, ob wir das alles wirklich brauchen. Aber vor allem haben wir haben Fäuste, um uns gegen das zu währen, was uns tatsächlich schadet und Beine, um uns zu stellen und nicht zu flüchten.
11/2015